Schwester Elisabeth Hartwig: „Wir können Gott nicht begreifen, aber erleben“
Eichstätt. (pde) – Sr. Elisabeth Hartwig, seit April Interimsoberin der Benediktinerinnenabtei St. Walburg in Eichstätt, wuchs als Katholikin in der DDR auf. Fragen nach Gott, Wahrheit und Lebenssinn beschäftigten sie bereits vor ihrem Physikstudium. Antworten findet sie in ihrer Berufung als Ordensfrau. Im Interview spricht sie über die Verbindung zwischen Glauben und Wissenschaft, die Begrenztheit menschlichen Begreifens und über die Bedeutung des Gebets in der Gottesbeziehung.
Sr. Elisabeth, Sie sind in Torgau an der Elbe aufgewachsen. In welchem Umfeld haben Sie dort gelebt und wie hat Sie das in Ihren jungen Jahren geprägt?
Sr. Elisabeth Hartwig: Ich bin als Katholikin in der DDR aufgewachsen und erlebte den Glauben sehr tief in meiner Familie und in der Pfarrei. Gleichzeitig bin ich als Kind und auch als Studentin durch das Schulsystem der DDR gelaufen, das atheistisch geprägt war. Aus dieser Spannung heraus ergaben sich von vornherein immer wieder existentielle Fragen in meinem Leben, zum Beispiel: Was ist wahr? Was zählt im Leben wirklich? Das hat mein ganzes Streben, mein ganzes Lernen sehr beeinflusst.
Antworten suchten Sie zunächst im Physikstudium an der Universität Jena. Warum gerade in der Physik?
Ich habe mit den Naturwissenschaften angefangen, weil sie weltanschauungsneutral sind. Ich habe zwar Physik studiert, wollte aber gar nicht Physikerin werden. Mit meinen philosophisch-theologischen Interessen unterschied ich mich da von der Mehrheit meiner Kommilitonen. Viele, die damals Physik studierten, wollten Computer oder Flugzeuge bauen. Ich habe mich besonders für die theoretische Physik interessiert und dann im Bereich der Quantenphysik meine Diplomarbeit geschrieben.
Bei Ihrer Ernennung zur Interimsoberin von St. Walburg sagten Sie, dass Fragen nach Gott Sie schon damals in der Studienzeit beschäftigt haben. Gott ist aber keine Größe, kein Begriff in der Physik. Mit welchen Fragen und Gedanken beschäftigten Sie sich?
Im atheistischen Schulsystem der DDR wurde immer behauptet, Atheismus sei wissenschaftlich, sei naturwissenschaftlich gestützt. Das hat mir nicht eingeleuchtet, beziehungsweise das wollte ich erkunden. Mir war sehr früh klar, besonders dann auch im Studium, dass es völlig andere Fragen sind, die die Physik stellt. Was mich die Physik wirklich gelehrt hat, ist das Staunen über die Natur, über Gottes Schöpfung. Die Spuren Gottes in der Schöpfung suchen war mein Thema – in diesem Sinne hat die Physik, haben die Naturwissenschaften mich schon ein Stück weit geführt. Mein Glaube war dabei das Tragende, das Leitende.
Dann änderte sich plötzlich bei einem Besuch in Eichstätt, bei einem Abendgebet in St. Walburg, Ihre Lebensrichtung. Was ist da passiert?
In der Zeit als ich das Physikstudium beendete, ereignete sich der Mauerfall, die Wege waren offen. Ich kam nach Eichstätt, um die Stadt kennenzulernen, weil ich mit dem Gedanken spielte, hier ein Theologiestudium anzuschließen, um meinen Fragen noch tiefer nachgehen zu können. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich das Kloster St. Walburg und erlebte im Abendgebet die Gewissheit: Ich bin genau dort, wo mein Weg weitergehen wird, nicht an der Universität, sondern im Kloster. Das ist eine Form von Gewissheit, die kann man mit physikalischen Gesetzen überhaupt nicht vergleichen. Das ist ein Wissen, das mich zutiefst im Inneren berührt und einen eigenen Wahrheitsanspruch verkörpert, der das, was mich bisher in den Naturwissenschaften beschäftigt hat, total übersteigt.
War das der Moment in dem Sie Ihre Berufung entdeckt haben?
Ja, genau das ist Berufung. Das war wirklich so, wie das auch immer wieder bei manchen Bekehrungen geschildert wird.
Und wie ging es weiter?
Am nächsten Tag hatte ich ein Gespräch mit Mutter Franziska Kloos (damalige Äbtissin von St. Walburg). Ich habe ihr gesagt: Ich denke ernsthaft, dass ich hier eintreten muss. Meine Gottsuche führt hierher. Und sie hat sofort Ja gesagt. Das war sehr ungewöhnlich. Sie hat dann gemeint, sie möchte mich aber erst noch kennenlernen. Ich müsse nochmal zu Besuch kommen. Ich konnte natürlich nicht sofort hier bleiben. Auch meiner Familie musste ich erklären, was ich da jetzt für einen Schritt mache.
Wie hat Ihre Familie reagiert?
Trotz gläubigem Verständnis: ziemlich schockiert. Aber sie haben auch gespürt, dass ich einem besonderen Ruf folge.
Wie erklären Sie sich das, was mit Ihnen passiert ist?
Es gibt einen bekannten Quantenphysiker, Hans Peter Dürr, der 2014 verstorben ist. Er beschreibt in seinem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“ sehr viel von dem, was meinen Weg ausgemacht hat. Auch in der modernen Physik lässt sich nicht alles einfach begreifen, gibt es Grenzen, die zum Beispiel die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation vorgibt. Zunächst ging es mir um das Begreifen, aber das ist eben nicht alles. Nun war da diese Erfahrung beim Abendgebet in St. Walburg. Ich erlebe etwas, das ich nicht begreifen kann, und es ist mehr wahr als das, was ich begreifen kann. So ist es oft in der Gottesbeziehung, in der Erfahrung mit Gott.
Kann man Gott begreifen?
Im echten Wortsinn nicht, aber man kann ihn erleben. Ich wollte Gott erleben und das Begreifen rückte sozusagen an die zweite Stelle. Wobei man vorsichtig sein muss mit diesem Satz. Wir können beim Begreifen irren. Wir können aber auch bei der Deutung dessen, was wir erleben, irren. Insofern geht es eigentlich um eine gute Balance zwischen beidem. Ich glaube, ich habe auch eine ausgeprägte Berufung zur Lehrerin. Das hat mir diese Balance bisher immer wieder auch geschenkt. Ich muss mich um das Begreifen bemühen, weil ich auch ins Wort bringen möchte, was wir wissen können und was unser Leben ausmacht, was wichtig ist im Leben. Aber ich erfahre in meinem Leben als Ordensfrau und überhaupt im menschlichen Leben immer wieder viele Dinge, die das Begreifen eben übersteigen.
Sie sind neben Ihrem Ordensleben seit fast 30 Jahren Religionslehrerin an der Grundschule hier am Kloster. Wie ist es für Sie, Kindern Glaubensthemen zu vermitteln?
Das ist eine sehr schöne Sache, weil man bei Kindern sehr einfach sein muss. Das ist für mich auch bis heute eine große, besondere Aufgabe: immer wieder Bilder zu finden, anschaulich Dinge zu erklären, das macht für mich den Beruf so kostbar: Lehrerin zu sein, auf die Fragen der Kinder einzugehen, sie abzuholen, und mich auch selbst zu fragen: Was verstehen sie? Was fasziniert sie und wo merken sie, dass wir da einer ganz großen Realität begegnen, die eben unser Begreifen oft übersteigt? Und sie einzuladen zu dieser Offenheit, sich das zu bewahren, nicht abzulehnen, was ich nicht begreife, sondern darüber zu staunen.
Was war die kniffligste Frage, die Ihnen ein Kind gestellt hat, und wie haben Sie geantwortet?
Das kann ich so eigentlich gar nicht sagen, weil ich selber ein Mensch bin, der viel fragt und der Fragen liebt. Ich finde es faszinierend, wie viele Fragen wir beantworten können. Durch unser Begreifen wissen wir aber auch, dass es viele Fragen gibt, die wir wirklich nicht beantworten können. Da geht es für mich darum, dies ehrlich zu erkennen und auch zu sagen. Das zu unterscheiden und zuzugeben, das finde ich sehr wichtig. Also mich um das Begreifen zu bemühen, soweit es geht, aber auch zu sagen, das begreife ich nicht, das übersteigt unseren Horizont.
Eine Frage, die vielleicht auch von einem Kind kommen könnte: Was ist Gott für Sie?
Gott ist das Sein. Gott ist Quelle des Lebens, lebendiges Licht. Gotte ist Liebe, Freude, Frieden, Geborgenheit. Gott ist ein wunderbares Du. Da gibt es unwahrscheinlich viel, was ich noch aufzählen könnte.
Sie haben Licht genannt. Das ist wiederum ein Begriff, der einen großen Platz in der Physik genauso wie in den Religionen hat. Der Physikprofessor Markolf Niemz, ein evangelischer Christ, beschreibt in seinem Buch „Die Welt mit anderen Augen sehen“ Licht als „eine Art Ewigkeit“ und sagt: „Ich glaube tatsächlich, dass der Weg zu Gott über das Licht führt.“ Wie sehen Sie das?
Diesen Satz, „Ich glaube tatsächlich, dass der Weg zu Gott – in irgendeiner Form – über das Licht führt“, würde ich auch unterschreiben.
Jesus selbst sagt, ich bin das Licht der Welt.
Genau, Johannes 8. Aber erst mal die physikalische Seite: Licht ist ein ganz faszinierendes Phänomen. Als Physiker muss man redlich sagen, dass man es eigentlich nicht wirklich begreifen kann. Licht ist Träger von Informationen, Lichtgeschwindigkeit ist eine der wichtigsten Naturkonstanten, die wir haben. Wir haben beim Licht ganz anschaulich diesen Welle-Teilchen-Dualismus. Es ist für uns eigentlich nicht im echten Sinn fassbar, dass sich zum Beispiel je nach Experimentieranordnung das Licht als Teilchen oder als Welle wahrnehmen und messen lässt. Viel interessanter ist aber aus meiner Sicht die theologische Seite, die Licht hat. Es begegnet uns in der Bibel gleich auf der ersten Seite: Genesis 1 im ersten Schöpfungsbericht, Vers 3: „Es werde Licht.“ Aber erst viele Verse später, am vierten Schöpfungstag, werden Sonne, Mond und Sterne erschaffen. Was mich unglaublich fasziniert, ist auch der Begriff des Lichtes im Kontext des Heiligen Geistes. Ich liebe die Pfingstsequenz und da gibt es in der zweiten Strophe eine meiner Lieblingsstellen, die heißt „Veni, lumen cordium (Komm, Licht der Herzen). Das ist kein physikalisches Licht, von dem hier gesprochen wird, aber es ist Licht. Es ist ein inneres Licht. Später heißt es „O lux beatissima, reple cordis intima tuorum fidelium.“ (O seligstes Licht, erfülle das Innerste der Herzen deiner Gläubigen.) Diese Bezeichnung des Lichts ist völlig zutreffend, übersteigt aber unsagbar das, was wir optisch erleben. Das wäre jetzt auch wieder dieser Punkt, als ich vorhin gesagt habe: Wir erleben mehr, als wir begreifen. Dieses Licht kann ich erleben, kann ich spüren, aber ich kann es nicht begreifen. Und das ist ein Wunder, ein Geschenk, etwas ganz Großes.
Nicht wenige Physikerinnen und Physiker beschäftigen sich auch mit Gottesfragen. Die Schweizer Astrophysikerin Kathrin Altwegg sagt im Buch „Ich glaube, mir fehlt der Glaube“: „Ich stelle mir Gott nicht personell vor, sondern als eine göttliche, alles umschliessende Dimension.“ Viele Menschen können vermutlich etwas damit anfangen, weil es einfacher klingt als die Lehre der Dreifaltigkeit – Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Was meinen Sie?
Ich kann gut verstehen, dass für viele Menschen Gott als Intelligenz oder göttliche Kraft, Energie und so weiter einfacher wahrnehmbar ist, aber wir sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, wir sind Personen. Und mit dem Person-Sein Gottes steht und fällt auch sozusagen diese Liebesbeziehung, die wir als Geschöpfe Gottes zu unserem Schöpfer haben. Als Ordensfrauen und Benediktinerinnen leben wir einfach mit diesem Person-Sein. Deshalb sagte ich auch bei meiner Aufzählung: Gott ist Liebe, Gott ist dieses wunderbare Du, mit dem ich kommunizieren kann. Ohne dieses Person-Sein ginge das nicht.
Viele Menschen spüren Gott in der Natur, beim Spazierengehen oder beim Blick in den Sternenhimmel. Wann spüren Sie ihn besonders?
Mein geistlicher Weg ging eigentlich von außen nach innen. Ich habe vorhin von der Pfingstsequenz gesprochen, diesem Veni, lumen cordium. Also ich begegne Gott in meinem Herzen. „Komm, Licht der Herzen“ – dieses Licht möchte im Innersten der eigenen Person aufscheinen. Hier geschieht eigentlich diese Begegnung. Unser Weg als Menschen ist tatsächlich oft ein Weg von außen nach innen. Auch der Weg von der Physik bis zu dieser Mystik ist ein Weg von außen nach innen. Diese Begegnung mit Gott kann nicht nur ein Teil des Lebens sein, sondern muss immer mehr von innen her die ganze Person erfassen. Dieses Licht muss überall durchscheinen in meinem Leben: in meiner Arbeit, in meinem Arbeiten für andere, in meinen Begegnungen, in meinem Beten.
Beten spielt in der benediktinischen Spiritualität eine zentrale Rolle, Ora et labora (bete und arbeite) lautet das Motto des Ordens. Sie beten oft im Kloster. Was macht das Wesen des Gebets aus?
Es gibt verschiedene Formen des Gebets. Grundlegend ist zunächst das mündliche Beten. Die Psalmen etwa bieten eine zeitlose Sprache, um mit Gott zu sprechen. Sie beziehen alles ein, was ich mitbringe: die Menschen, die Kirche, die Welt. Dann gibt es das meditative, betrachtende Beten. Mit Herz und Verstand sucht der Beter oder die Beterin die Begegnung mit Gottes Wort und Gegenwart. In der Vita des heiligen Benedikt wird das beschrieben als ein Wohnen bei sich selbst, unter den Augen Gottes. Das Dritte ist das kontemplative innere Beten, bei dem ich nichts mehr begreifen muss, wo ich einfach mit meiner ganzen Existenz im Beten drin bin, als würde ich im Meer schwimmen. Da brauche ich mir nicht mehr Gedanken über irgendwelche Wassertropfen zu machen, sondern da bin ich ganz umhüllt von dieser Existenzweise. In der Klostergemeinschaft ist das Gebet auch ein strukturierendes Element für den Tagesablauf. Wir haben das gemeinsame Stundengebet, dann gibt es die lectio divina, das ist das betrachtende Lesen der Heiligen Schrift oder die begleitende Lektüre geistlicher Autoren. Und dann ist da eben auch das ganz persönliche innere Beten, das zwischen Gott und mir geschieht.
Eine letzte Frage: Was ist Ihr Lebensmotto?
Dazu würde ich mit Teresa von Avila sagen: „Gott allein genügt.“
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Geraldo Hoffmann