Es war ein heißer Spätnachmittag in Nazareth. Die Vögel sangen laut, als der kleine Knabe zu dem verkrüppelten Mann kam. Der Mann saß auf einem Felsen und war reich gekleidet. In der Nähe wachten einige römische Soldaten.
Der Knabe, ein einfacher armer Jude, fragte: Wer bist du?
Seine furchtlose und freudige Art zog den Mann an. Ich bin ein König, lächelte der Mann.
Ein König aus fernen Landen...
Der Knabe beobachtete ihn. Du siehst nicht so aus wie ein König... du kannst nicht gehen, kannst du? Und du bist ein Gefangener der Römer...?
Bitterkeit lag auf dem Gesicht des Mannes: Ich war ein großer und mächtiger König! Aber ich bin vor vielen Jahren in einem Krieg verletzt worden... Und siehst du, diese schreckliche Wunde in meinem Bein heilt nie... also muss ich ein Gefangener der Römer sein... Eines Tages aber werde ich meine Rache haben...!
Der Knabe sah ihn neugierig an. Ist es das, was ein König macht? Rache nehmen?
Ja, sagte der Mann und lächelte wieder. Du bist ein lustiger und unwissender Bub! Ein König hat Macht, auch über das Leben und den Tod seiner Untertanen... Er ist reich, lebt in einem Palast, hat Sklaven und Diener und Soldaten, die ihm gehorchen... Er erobert andere Länder! Er ist gefürchtet und er muss hart und stark sein. Er kann alles tun, was er will!
Du armer... antwortete der Knabe mit Mitleid. Es muss schon schwer sein, ein verkrüppelter König zu sein...
Der Mann änderte das Thema. Und du? Du scheinst klug... ist dein Vater ein wichtiger Mann in diesem Dorf?
Mein Vater? Er ist nur der Zimmermann! Meine Mutter ja, sie sieht aus wie eine Königin... Sie ist so schön!
Der Mann war interessiert. Vielleicht wirst du eines Tages die verhassten Römer bekämpfen ... und auch ein König werden?
Der Knabe sah ihn an und lachte mit seinem freudigen kleinen Gesicht. Ich werde dir ein Geheimnis erzählen... Ich bin schon ein König!
Du?!! Ah, ja! Sag mir, lustiger Bub, über was hast du Macht?
Über das ganze Universum...
Was?? Der Knabe blickte verträumt vor sich hin. Über die Sterne, die Pflanzen, die Tiere, über die Sonne, die jetzt untergeht... über den feinen Sand, die hohen Berge, den Regen ... über das, was passieren wird und passiert ist... ja, auch über Leben und Tod ...
Der Mann lachte laut auf. Du hast Macht über all das, ja?! Und du hast gewiss auch viele Diener??
Gerade sah ich eine alte Frau am Brunnen... Ich kenne sie... sie ist krank, schwer krank. Aber voller unendlicher Geduld und Güte ... Sie ist meine Dienerin ...
Oh, die arme alte Frau, ich sehe ... Und deine Eroberungen? Jeder König hat Land und Leute erobert!
Weißt du, es war ein Verbrecher im Dorf. Aber er bereute und kam nach Hause und sorgt jetzt für seine Frau und Kinder ... Er ist meine Eroberung...
Gegen seinen Willen lieβ sich der Mann beeindrucken. Aber er machte sich lustig über ihn: Und deine Reichtümer, du armer Bub?
Der Knabe lächelte, ein volles, zufriedenes, tiefes Lächeln. Güte... Wahrheit... Demut... Barmherzigkeit... Opfer... Freude... Gerechtigkeit... Liebe...
In diesem Augenblick schrie einer der römischen Soldaten: Zeit zu gehen!
Der Mann machte eine ungeduldige Geste. Das fremde Kind hatte eine seltsame Wirkung auf ihn.
Du weißt, Bub, du bist ein ungewöhnlicher Mensch, vielleicht wirst du wirklich ein König werden. Hier, nimm das als Geschenk für deine Mutter, von der du sagst, sie sei so schön. Es ist ein goldener Armring, der von meinem Volk gemacht wurde. Sie sagen, die Götter werden diejenigen segnen, die es tragen...
Die Soldaten packten den Mann. Aber der Knabe kam ihm näher. Aus irgendeinem Grund behinderten die Soldaten ihn nicht. Für einen Augenblick hob er seine kleinen Augen zum Himmel und dann berührte er das Bein des Mannes und lächelte: Auch ich gebe dir ein Geschenk! Und meines kommt von dem einzigen Gott, dem Herrn aller Dinge.
Der Mann stand auf und ging langsam weg, von den Soldaten geschleppt. Aber plötzlich blieb er stehen, dann beugte er sich und berührte sein Bein mit den Händen. Dann ging er noch ein paar Schritte. Der Schmerz war weg. Sogar die Lähmung. Erstaunt zog er seine Tunika weg und sah auf sein Bein. Es gab keine Wunde, keine Schwellung, keine Narbe.
Er war geheilt.
Er schob die Soldaten abrupt weg, drehte sich um, sah den Knaben an, ergriff dessen Hände und fragte heiser: Was hast du getan?? Wer bist du...???
Jesus lächelte ihm zu. Erinnere dich immer daran: es gibt nur einen wahren König, und er ist der einzige und allmächtige Gott, Er herrscht über alles... Und Gott ist die Liebe....
Ja, der Knabe von Nazareth, Jesus Christus, der Heiland der Welt,
er allein ist der wahre Herr und König.
Sr. Martina Braga OSB